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N A C H W O R T
V o n K l a u s F a r i n |
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Stefan Michael Bar wurde im Dezember 1976 in Stuttgart
geboren. Ein “Unfall”. Die Mutter war zu dem Zeitpunkt erst fünfzehn
oder sechzehn Jahre alt, der Vater, Sohn einer aus Italien eingewanderten
Gastarbeiterfamilie, nicht viel älter. Die deutschen Behörden
verweigern die Heiratsgenehmigung und Familiengründung, mit drei Jahren
wird Bar schließlich den Eltern weggenommen und zwangsweise in ein
Heim gesteckt, freigegeben zur Adoption. Er hat relatives Glück und
wird nach “nur” einem Jahr Heimaufenthalt adoptiert. Der neue Vater ist
Direktor eines Gymnasiums, die Mutter ebenfalls Lehrerin an einer Grundschule.
Beide sind engagierte Christen. Die Familie lebt in einer Kleinstadt bei
Stuttgart, Bar wird einen kleinen Bruder bekommen. Eine scheinbar perfekte,
gutbürgerliche, heile Welt. Die Kehrseite der Medaille: Der in Beruf
und Gemeinde, bei der Caritas usw. religiös, gesellschaftlich und
sozial engagierte Vater hat kaum Zeit für die Familie und der Leistungsdruck
der Lehrereltern auf ihre Kinder ist enorm. “Für sie war es selbstverständlich,
dass ihr Kind zu den besten gehörte... nur Leistung und Ehrgeiz zählte”,
notiert Bar. “Meine Eltern waren nie für mich da. Gute Noten war alles,
was zählte. Zu funktionieren, die netten Söhne vom Herrn Oberstudienrat.
Familienleben allenfalls im Urlaub, selbst dahin schleppte mein Alter irgendwelche
Schulhefte zum Korrigieren mit – auf keinen Fall stören! Wer keine
Zeit für sich hat, hat auch keine für seine Kinder.” |
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Schon in der dritten Klasse rebelliert der Junge zum ersten
Mal, verweigert die Leistungen, schwänzt die Schule und geht stattdessen
lieber mit seinem besten Freund, einem Jungen aus einer türkischen
Einwandererfamilie, auf Diebestouren. Dennoch wird Bar auf’s Gymnasium
eingeschult – auf das seines Vaters. Um dessen ständige Präsenz
und Kontrolle abzuschütteln, läßt Bar seine Leistungen
so sehr absacken, dass ein Wechsel zur Realschule unumgänglich ist.
Doch auch dort integriert er sich nicht mehr. Er legt sich mit den Lehrern
an, viele davon Bekannte, Studienkollegen oder sogar Freunde seines Vaters,
verweigert erneut die schulischen Leistungen, schwänzt regelmäßig
den Unterricht. Vor allem Religion. “Mein Gott war das nicht, meine Religion
auch nicht, das war das Seelenheil meiner Alten. Ihr Gott war es, den ich
anbeten musste, ihr Gott war es, dem ich Sonntag für Sonntag huldigen
musste.” Der bereits hier in der Kindheit wachsende “Konkurrenzkampf” mit
Gott und der Kirche um die elterliche Aufmerksamkeit wird in wenigen Jahren
zu einem allgemeinen Hass auf alle Religionen aufblühen und sich schließlich
in fürchterlichen antisemitischen Straftaten entladen. |
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Die Schule sieht Stefan Michael Bar fortan noch seltener,
die als Neunjähriger begonnenen kindlichen Diebestouren münden
allmählich in eine kriminelle Karriere: Einbrüche in Büros,
Getränkemärkte oder auch Wohnungen von Mitschülern, Hehlerei.
Ein erneuter Schulwechsel wird fällig, von der Real- auf die Hauptschule.
“Ich begann, mir selber egal zu werden. An meine einstigen Ziele und Träume,
Studium, dachte ich längst nicht mehr.” Auf der Hauptschule lernt
er zum ersten Mal einen “echten” Neonazi kennen. |
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Das Thema Nationalsozialismus, Krieg fasziniert Bar seit
langem, vor allem, seitdem er merkte, dass es zu Hause tabu war. Der Großvater
hatte sichtbare Kriegsverletzungen, was den Jungen neugierig machte, der
Vater hat als Kind die Vertreibung aus der Heimat durch die sowjetischen
Sieger miterlebt; den Eltern ist das Thema irgendwie peinlich, sie weichen
den Fragen des Jungen aus. Er begreift: Das ist ein Thema, mit dem man
Erwachsene provozieren kann. In der sechsten Klasse malt er in der Pause
mit dem Schwamm ein riesiges Hakenkreuz an die Tafel. “Was das Zeichen
genau bedeutete, wusste zwar niemand von uns, ich auch nicht so recht,
doch die Predigt meines Alten war heftig.” Erwachsene – Lehrer, Eltern
– reagieren auf die “Nazi-Schmierereien” schockiert, empört, sind
offenbar aber nicht in der Lage, den Grund ihrer Empörung zu erklären.
Das Hakenkreuz selbst wird zum Mythos. Das Interesse steigt. “Unter meinen
Mitschülern traf ich auf eine Menge ‘Gleichgesinnter’, wir fanden
es lustig, uns mit Diensträngen der SS anzusprechen, unser Wissen
bezogen wir aus der Schulbibliothek.” – Und den Medien, lange vor dem Einzug
von Internet und Privat-TV in jedes Kinderzimmer. “Als ich eines Morgens
die Klasse betrat, standen einige Jungs auf und hoben den Arm zum Deutschen
Gruß. ‘Heil Metzger!’ Damit meinten sie aber nicht mich, irgendeiner
hatte einen Report über amerikanische Neonazis und ihren Führer
Tom Metzger gelesen, der war jetzt auch unser Vorbild.” |
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Eines Tages bringt ausgerechnet Bars türkischstämmiger
Freund NPD-Aufkleber mit. Welche Ziele diese Partei eigentlich genau vertrat,
wusste keiner der beiden so genau. “NPD hieß für uns ‘Nazipartei
Deutschlands’. ... Egal, jetzt hatte ich mir volle Provokation auf die
Fahne geschrieben.” Die Lehrer geben den Zwölf-, Dreizehnjährigen
auf. “Belehren ließ ich mich nicht, die hatten einfach resigniert.
Wenn ich überhaupt anwesend war, lümmelte ich in der letzten
Reihe und las Bücher über das Dritte Reich.” Die einzigen Reaktionen
auf sein provokatives Verhalten fallen hilflos-repressiv aus. “Der Lehrer
kotzte fast: ‘Unterm Hakenkreuz sind sechs Millionen Juden gestorben!’,
und scheuchte mich zur Schulleitung. Der Rektor nervte mich fast eine Stunde,
versuchte, mir was von Demokratie und Menschlichkeit zu erklären.
Ich hörte gar nicht zu, grinste nur frech. ‘Eine Woche Schulverweis!’” |
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Zu Hause wird das Thema weiterhin totgeschwiegen, selbst,
als auch der jüngere Bruder in NPD-Kreise gerät und der Vater
einmal mehr als eintausend NPD-Aufkleber in dessen Zimmer entdeckt, findet
kein ernsthaftes Gespräch statt. Er beschlagnahmt die Aufkleber schweigend
– und gibt sie ihm ebenso an seinem 18. Geburtstag zurück. |
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Der jüngere Bruder radikalisiert sich weiter – von
der NPD zur Nationalistischen Front, der seinerzeit provokantesten Neonazi-Organisation
auf dem legalen Markt. Bar folgt ihm willig und übertrumpft ihn sogar:
Wie viele Neonazis bewirbt er sich auf dem kroatischen Konsulat als Söldner.
“Soldatenromantik wie in den Landser-Heftchen. Männlich. Heroisch.
Für die meisten waren das wohl nur Sprüche, ich nahm das ernst.” |
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Eingegriffen hat wohl niemand, nicht einmal, als Bar monatelang
der Schule fern blieb. “Zu dem Zeitpunkt war ich nicht nur minderjährig,
vor allem war ich auch schulpflichtig. Im Ernstfall hätten mich die
Bullen hinbringen müssen. Passiert ist gar nichts, wochenlang, monatelang.”
Auch die Eltern scheinen ihren Adoptivsohn aufgegeben zu haben, sogar,
als die Polizei gelegentlich auftaucht und sein Abgleiten in die Kriminalität
unübersehbar wird. Das Duo hatte seine Aktivitäten bereits in
die nahe Großstadt Stuttgart ausgedehnt, ihre Einnahmen aus Supermarktdiebstählen,
Einbrüchen, Autoknacken, Hehlerei mit den ausgebauten Anlagen sowie
schließlich auch Dealen mit Drogen gestattete ihnen inzwischen einen
recht passablen Lebensstil. Nicht selten ließ sich der inzwischen
Fünfzehnjährige mit dem Taxi von zu Hause abholen. Doch schließlich,
kurze Zeit nach dem Bewerbungsgespräch auf dem kroatischen Konsulat,
werden Bar und zwei Mittäter erwischt, einer packt aus, Bar landet
– für fast ein Jahr – in der Jugendstrafanstalt Schwäbisch Hall. |
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Nach seiner Entlassung wird der Sechzehnjährige auf
Anordnung des Gerichtes seinen Adoptiveltern entzogen und erneut in ein
Heim eingewiesen. Dort trifft er auf Skinheads, Hooligans und (andere)
Rechte, darunter sogar ein NPD-Mitglied, “das Zimmer über und über
mit Propaganda dekoriert. Daran störte sich niemand, auch nicht an
der Reichskriegsflagge und der einschlägigen Musik.” Im Heim entscheidet
sich Bar “endgültig für die Rechten. Wie überall, wo Menschen
miteinander leben, bilden sich Gruppen, irgendwo musste ich dazugehören.”
Bar wird Mitglied der damals noch legalen FAP. Verheimlichen brauchte er
das auch gegenüber den Pädagogen und der Heimleitung nicht. Denn
wieder reagierte niemand. “Ein ernsthaftes Gespräch dazu gab es nie,
wahrscheinlich haben die sich gedacht, ‘nur so ‘ne Phase, das legt sich
schon wieder’. Wie radikalisiert, ideologisch gefestigt ich mittlerweile
war, schienen die gar nicht bemerkt zu haben.” |
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Im Zeitraffer betrachtet scheint die Biographie des Stefan
Michael Bar mit erschreckender Logik auf seine spätere neonazistische
“Karriere” hinzuführen: die zwangsweise, durch die Polizei durchgeführte
Trennung von seinen leiblichen Eltern (mit der Bar heute noch zentral seinen
grenzenlosen Hass auf den deutschen Staat erklärt), die gleichzeitig
auch seine italienischen Wurzeln kappt; der erste, einjährige Aufenthalt
in einem Kinderheim; die Adoption in eine zwar nach außen hin gutbürgerliche
Familie, in der Bar sich jedoch hauptsächlich kontrolliert und in
ein enges, erneut aufgezwungenes Korsett gepresst und nicht als Person
geliebt und akzeptiert fühlt (der ewige Kampf um die Anerkennung des
– zumeist sehr autoritären – Vaters spiegelt sich in zahlreichen Biographien
deutscher Neonazis wider, am bekanntesten im Falle des Ostberliner Ingo
Hasselbach); das hilflose (Nicht-)Reagieren der Erwachsenen auf das Thema
Nationalsozialismus, das neonazistischen Symbolen und Attitüden eine
begehrenswerte Provokations- und Protestkraft verleiht und sie gleichzeitig
durch Tabuisierung mythologisch verklärt; schließlich der mit
dreizehn, vierzehn Jahren wachsende Einfluss Gleichaltriger, das Hineingeraten
in die harte Männer- bzw. Männlichkeitskultwelt des Heimes, in
der nur Härte und Stärke zählen, und die Notwendigkeit,
sich einer Clique anzuschließen, die Bars Weg in die rechten Kameradschaften
ebnet. |
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Doch so logisch, fast zwangsläufig sich dieser Weg
des Stefan Michael Bar in die Neonazi-Szene auch lesen mag, er ist es nicht.
Millionen von jungen Männern in Deutschland mach(t)en ähnliche
Erfahrungen wie Bar. Auch ich erinnere mich noch, dass das Thema Nationalsozialismus
in meiner eigenen Schulzeit ein besonders ‘heißes’ Thema war. Alt-Nazis
und 68er trafen im Lehrer-Kollegium aufeinander, der Lateinlehrer brachte
uns im Rahmen einer Klassenfahrt in München bei einer deutschnationalen
schlagenden Studentenverbindung unter, während der Geschichtslehrer
uns wochenlang mit Filmen voller Leichenberge und auswendig zu lernenden
Weltkrieg-II-Daten malträtierte. Auch wir durchliefen mit 12, 13,
14 Jahren eine Phase, in der wir uns vorzugsweise mit Deutschem Gruß
und militärischen bzw. SS-Rängen begrüßten. 50 000
Jugendliche unter 18 Jahren leben derzeit in einem Heim, mehr als 7 000
ältere Jugendliche in weiteren intensiv sozialpädagogisch betreuten
Wohnformen, 37 000 leben nicht bei ihren eigenen Eltern, sondern in einer
“Pflegefamilie”. Jahr für Jahr kommen etwa 6 000 weitere Adoptionen
hinzu. 4 713 14-21jährige sitzen derzeit irgendwo in Deutschland in
Haft. Jeder Zehnte unter 25 Jahren war im letzten Jahr arbeitslos gemeldet,
viele davon bekamen nicht einmal die Chance, nach der Schule eine Ausbildung
zu absolvieren. So lernen schon Vierzehnjährige, dass diese Gesellschaft
sie nicht braucht. Etwa 1,4 Millionen Kinder und Jugendliche wurden in
Deutschland von ihren eigenen Eltern, Erziehungsberechtigten, nahen Verwandten
krankenhausreif geprügelt oder anders körperlich mißhandelt
– eine Erfahrung, die Stefan Michael Bar sogar erspart blieb. Doch nur
eine winzige Minderheit der so in ihrer Entwicklung geschädigten Jugendlichen
landet in der Neonazi-Szene, und auch die vielen anderen, immer wieder
genannten Ursachen für ein Abdriften von Jugendlichen in rechtsextreme
und rassistische Ideologien und Subkulturen – der Einfluss entsprechend
orientierter (Groß-)Väter und anderer erwachsener Vertrauenspersonen,
Arbeitslosigkeit und mangelnde Perspektiven, moralische und Bildungsdefizite,
gewaltverherrlichende Computerspiele und verführerische neonazistische
Propaganda in Musik, Internet und Printmedien, alleinerziehende Mütter,
fehlende Väter und anderweitig sozial zerrüttete Familienverhältnisse
usw. – führen offensichtlich nicht zwangsläufig in die rechtsextreme
Ecke. Allgemeinverbindliche Ursachen, gar Kausalitätszusammenhänge
– wenn..., dann... – lassen sich aus den inzwischen zahlreich geführten
biographischen Gesprächen und Analysen rechtsextremer Ideologen und
(Gewalt-)Täter nicht ableiten. Auffallend gehäuft (aber auch
hier lassen sich Gegenbeispiele nennen) treten lediglich folgende Faktoren
in Erscheinung: |
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Das Interesse am Thema Nationalsozialismus erwacht häufig sehr früh
und als Reaktion auf für Kinder scheinbar unerklärliche, irrationale
Verhaltensweisen Erwachsener: (Groß-)Eltern verschweigen ihre Jugendzeit,
weichen auf entsprechende Fragen aus, positive Erinnerungen werden als
Geheimnis offenbart (“aber erzähl’ es nicht in der Schule / bei den
Eltern weiter”), die NS-Zeit wird zum spannenden Mythos.
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NS-Symbole und -Attitüden sind als Mittel der Provokation und des
Protestes wirksamer als alles andere. Bei manchen, einmal in die rechtsradikale
Ecke gedrängt, verfestigen sich Attitüden zur Haltung, aus Spaß
wird Ernst.
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Erwachsene nehmen Jugendliche nur selten ernst. Sie interpretieren häufig
“rechte” Sprüche, Symbole, Verhaltensweisen auch dann noch als “Spaß”
– jugendliches Protestverhalten, Provokation, pubertäre Phase –, wenn
es dem Jugendlichen längst ernst damit ist. Vor allem Eltern neigen
häufig dazu, sämtliche Anzeichen für eine rechtsextreme
Entwicklung ihres Nachwuchses zu “übersehen”, und seien sie auch noch
so eindeutig: Poster von Nazi-Größen und Rechtsrockbands oder
eindeutige Parolen bevölkern die Wände, aus den Boxen der
Musikanlage dröhnen nur noch Lieder rechtsextremer Musiker, das “Bildungsinteresse”
reduziert sich immer mehr auf die “deutsche Geschichte” vor 1945. Selbst
die Teilnahme an einschlägigen Demonstrationen und polizeiliche Ermittlungsverfahren
lassen in vielen, vielen Fällen keine Alarmglocken läuten. Ein
diffuser “Mein Kind ist gut”-Glauben bei gleichzeitig erschreckender Gleichgültigkeit
gegenüber der Realität der kindlichen Lebenswelt führt dazu,
dass Eltern ihre Möglichkeiten und Fürsorgepflichten nicht wahrnehmen
und so das weitere Abdriften ihrer Kinder in destruktive Szenen und Kulte
durch Weggucken und Passivität maßgeblich fördern. Immer
wieder, enthüllen zahllose Neonazi-Biographien, wurde nicht rechtzeitig
eingegriffen, nicht geredet, gefragt und geantwortet, wurden keine Grenzen
gesetzt. Oder falsch – nur moralisch-repressiv, hilflos-schockiert – reagiert,
die Grenze damit nicht zwischen dem Jugendlichen und der rechtsextremen
Ideologie gesetzt, sondern zwischen dem Jugendlichen und den Erwachsenen.
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Fast alle Neonazis und rechtsextremen Gewalttäter kommen aus Elternhäusern,
die selbst neonazistische Organisationen und Aktivitäten ablehnen,
nicht jedoch zentrale Ideologeme des Rechtsextremismus. Vor allem fremdenfeindliche
bis rassistische Einstellungen werden von vielen gar nicht als extremistisch
wahrgenommen, sondern erscheinen “normal”. “Fast jeder hier bei uns denkt
doch so”, verkünden Neonazis immer wieder, und mit “hier bei uns”
meinen sie nicht nur ihre direkten Kameraden, sondern ihr ganz alltägliches
Umfeld: Eltern, Lehrer, Arbeitskollegen und Vorgesetzte, natürlich
auch große Teile der Medien und Politik. Wer junge Angehörige
der rechten Szene fragt, was “rechts sein” für sie denn überhaupt
bedeute, der erhält fast immer die gleiche Antwort: “gegen Ausländer”
zu sein (“und die Zecken sind dafür”). Rassismus und Nationalismus,
in Deutschland eine untrennbare Einheit, sind der Kern der rechtsextremen
Identität, und dieser ist nicht erst in der rechtsextremen Kameradschaft
gewachsen, sondern bereits in der Mitte der Gesellschaft angelegt. So können
sich junge Rechte zu einem hohen Grad radikalisieren, ohne in Konflikt
mit der Mehrheitsgesellschaft und dadurch in die Gefahr einer für
die meisten Jugendlichen unerwünschten Position eines Außenseiters
zu geraten.
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Nicht unbedingt die Herausbildung rassistischer und rechtsextremer Einstellungen,
auf jeden Fall aber die Einordnung in die (gewalttätige) rechte Szene
hat sehr viel mit dem Geschlecht, mit der Entwicklung von “Männlichkeit”
zu tun: Rund 80 Prozent der Angehörigen rechtsorientierter Cliquen
und neonazistischer Parteien, Kameradschaften und anderer Organisationen
sowie 98 Prozent aller Gewalt- und anderen Straftäter mit rechtsextremem
Hintergrund sind männlichen Geschlechts.
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Es scheint Schutzmechanismen zu geben, die Jugendliche unterschiedlich
auf gleiche Erfahrungen und äußere Rahmenbedingungen reagieren
lassen. Arbeitslosigkeit, neonazistische Einflußfaktoren, rassistische/sozialdarwinistische
Einstellungspotentiale in der Gesamtgesellschaft, eine eher lieblose, gleichgültige
und/oder extrem autoritäre und leistungsorientierte Erziehung und
biographische Extremlagen sind objektive Risikofaktoren, entscheidend ist
jedoch die subjektive Interpretation und Verarbeitung dieser Vorgaben.
Die Folie für diese Interpretation der Welt ist die eigene Persönlichkeit.
Jugendliche Angehörige rechtsorientierter Cliquen zeichnen sich auffallend
häufig dadurch aus, dass sie nur über ein extrem schwach ausgebildetes
individuelles Selbstwertgefühl verfügen. Dies macht sie nicht
nur anfällig für ein dichotomes Weltbild, sondern auch für
Strukturen, die offensichtlich die Basis für den Erfolg rechtsextremer
Subkulturen und Organisationen bei bestimmten Jugendlichen darstellen:
Erst die Gruppe macht sie (scheinbar) stark.
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Angehöriger der rechtsextremen Szene zu sein ist
kein Hobby wie Briefmarken sammeln oder Fußball spielen. Sie verlangt
den ganzen Einsatz, und das meint nicht nur jederzeit, sondern auch der
ganzen Person. “Umgang, Aussehen, Sprache, Persönlichkeit. Je länger
ich dabei war, desto mehr veränderte ich mich”, notiert Bar. “Im Laufe
der Zeit reduzierten sich meine Bekanntschaften und Kontakte nur noch auf
Nazis und die ‘Szene’, selbst langjährige Freundschaften ließ
ich im Sande verlaufen. Wer kein ‘Kamerad’ war, war Feind, egal, wie lange
ich denjenigen schon kannte. Die ‘Bewegung’ stand über allem. Ununterbrochen
waren wir unter uns, schotteten uns regelrecht ab, schnell verlor man da
den Bezug zur Gesellschaft, zu ganz normalen Leuten. Das ganze Leben spielte
sich plötzlich nur noch in der Gruppe ab, reduzierte sich darauf,
die ‘Bewegung’ drang in alle persönlichen Bereiche vor, ohne Rücksicht
auf Privatsphäre.” |
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Der erste Schritt zum Ausstieg aus der rechten Szene ist
häufig eine längere räumliche und zeitliche Trennung von
den “Kameraden”. So bemerkt auch Stefan Michael Bar bereits bei den ersten
Treffen mit “Kameraden” nach der Haftentlassung, dass er sich der “Bewegung”
entfremdet hat. Die aufgeblasenen Posen und Sprüche erscheinen ihm
als Lügen, er fragt sich zum ersten Mal, wofür er eigentlich
in den Knast gegangen ist, was sich durch sein “Opfer” verändert hat.
“Ich begann, mich abzusondern, die ‘Kameraden’ zu meiden, konnte keinen
klaren Gedanken mehr fassen. Keine drei Monate nach der Entlassung dachte
ich zum ersten Mal ans Aussteigen.” Doch vom ersten Gedanken bis zur unwiderruflichen
Tat ist es noch eine gehörige Strecke Weges, auf dem nicht wenige
Neonazis wieder umkehren. Auch für Stefan Michael Bar beginnt ein
“langwieriger und schmerzvoller” Abnabelungsprozess. Es wird noch über
ein Jahr dauern, bis Bar wirklich ‘draußen’ ist. “Ist man erst mal
in der ‘Szene’ drin, ist sie alles. Sie gibt dir Freunde, ‘Kameraden’,
Zusammenhalt, Kleidung, Weltbild, Familienersatz, Schutz. Vorausgesetzt,
du identifizierst dich voll und ganz damit, stellst keine Fragen, bist
nicht kritisch. Ich aber fing an, mir Fragen zu stellen. Mein Weltbild
bröckelte. Das erschreckte mich. Mein Weltbild war ins Wanken geraten,
das war doch alles, was ich hatte. Dafür hatte ich mich in Haft gesetzt
und alles geschluckt, der Nationalsozialismus war meine Religion, das konnte
nicht falsch sein, durfte nicht falsch sein! Gegen das Nachdenken habe
ich mich gewehrt, wollte das gar nicht zulassen, würde ja heißen,
jahrelang auf der falschen Seite gestanden zu haben, der Knast, alles wäre
umsonst gewesen.” Die Zweifel waren da, trotzdem hielt Bar eisern an dem
fest, was ihm noch an Glauben verblieben war. “Der Nachdenkprozess hatte
eingesetzt, erste Risse in der Ideologie, die heile Welt der ‘Bewegung’
wankte. Wenn’s erst einmal so weit ist, ist die Sache nicht mehr zu retten,
erste Risse in der Ideologie sind nicht mehr zu kitten. Auch wenn ich das
verzweifelt versucht habe. Die ‘Szene’ ist eine Sucht, über Jahre
hinweg wirst du von ihr total abhängig. Du hast ja nichts anderes,
lebst für sie, bist in ihr aufgegangen. Der Gedanke, alles aufzugeben,
plötzlich ganz allein dazustehen, machte mir Angst. Wie ein Süchtiger
hielt ich dran fest, stürzte mich in politische Arbeit oder ging auf
Reisen.” |
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Ein erneuter Versuch der Verdrängung. Bar betäubt
sich mit Aktivitäten, erstellt fast im Alleingang eine Anti- Antifa-Dokumentation.
Er flieht ein weiteres Mal, wieder zur Fremdenlegion. Doch es funktioniert
nicht. Er funktioniert nicht mehr. Der Traum ist aus. Bar kehrt zurück
in die Realität. |
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Bar steigt aus, ohne zum “Verräter” zu werden, “ohne
andere reinzureiten. Warum mit dem System reden, dafür gibt es nicht
einen einzigen Grund. Hatte ich vorher nicht getan und tue ich bis heute
nicht.” Entgegen anderslautenden Medienberichten und gezielt auf Neonazi-Homepages
verbreiteten Gerüchten kooperiert Bar weder mit dem Verfassungsschutz
noch läßt er sich den Ausstieg von staatlichen oder seiner Meinung
nach ebenso dubiosen privaten “Aussteiger-Programmen” finanzieren. Um sich
dennoch alle Hintertürchen zu verschließen (“zu oft schon hatte
ich erlebt, dass Leute, die eigentlich draußen waren, plötzlich
wieder mitmischten. Heimlich, still und leise raus und auf dem gleichen
Weg wieder rein”), erklärt er am 15. Mai 2001 seinen Ausstieg öffentlich
im ZDF-Magazin Frontal 21. |
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Bei einem, der derart prominent im Rampenlicht der (Medien-)Öffentlichkeit
stand, ist eine derartige öffentliche Erklärung unverzichtbar.
Andere, die große Mehrheit der Neonazi-Aussteiger, vollziehen den
Bruch weniger auffällig. Sie reduzieren ihre Anwesenheit nach und
nach, hängen nicht mehr täglich oder an jedem Wochenende mit
der Clique herum, nehmen nur noch an wirklich “wichtigen” Konzerten, Demonstrationen
oder anderen Szene-Events teil – und bleiben eines Tages einfach weg. Die
Motive für die wachsende Distanz und schließlich den Ausstieg
sind selten ideologischer Natur, also etwa Konsequenz einer Auseinandersetzung
mit der Ideologie des Rassismus oder neue Erkenntnisse zur deutschen Geschichte,
sondern häufig viel “banaler”: Die neue Freundin teilt nicht das Gedankengut
der rechten Szene und setzt ihren Liebsten, genervt durch die ewige Konkurrenz
mit den “Kameraden” um die Wochenendgestaltung, unter Druck: die
oder ich. (Und nicht wenige Rechte entdecken dann, dass es doch prickelnder
ist, eine Freundin zu haben als Rudolf Heß zu lieben.) Man hat einen
befriedigenden Job und will den nicht durch auffällige neonazistische
Aktivitäten oder entsprechende Straftaten gefährden. Man hat
andere Leute oder Szenen kennengelernt, die einem etwas bedeuten und allein
durch ihr Anderssein vor Augen führen, in welch Sekten-Universum man
eingetaucht ist. |
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Aussteigen allein genügt jedoch nicht: Kaum einer
verläßt die rechte Szene, wenn er nicht gleichzeitig woanders
einsteigen kann, andere Freunde findet, die ihn akzeptieren, schützen,
mit denen er nun seine Freizeit verbringen kann. So entwickelte sich in
der zweiten Hälfte der 90er Jahre die Techno-Szene zum bedeutenden
Ausstiegshelfer für Neonazis (und andere gewaltbereite junge Männer).
Derzeit erscheinen vielen Jungen die HipHop- und Skateboarder-Szenen sowie
die überall sprießenden Freundschaftskreise illegaler Rau(s)chwaren
spannender als die Rechten, und auch Punk und die “schwarze” Szene der
Gothics sind vielerorts Alternativen für Jugendliche. Dort, wo eine
breite Vielfalt jugendlicher Subkulturen herrscht, haben es Rechtsextreme
erfahrungsgemäß schwer, die gewünschte Dominanz über
jugendliche Lebenswelten zu gewinnen. Die beste “Waffe” gegen rechte Szenen
ist offensichtlich nicht der “Kampf” gegen rechtsorientierte Jugendliche
und ihre kulturellen Ausdrucksformen, sondern die Förderung bzw. Duldung
der auf dem jugendlichen Freizeit- und Identitätsmarkt mit den Rechten
um den Nachwuchs konkurrierenden anderen – gewaltablehnenden, nicht-rassistischen,
toleranten – Kulturen. |
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Dazu gehört selbstverständlich auch eine breite,
auf allen Ebenen der Gesellschaft geführte Auseinandersetzung
mit den ideologischen Stützsäulen des Rechtsextremismus, mit
Rassismus, Intoleranz und der sozialdarwinistischen Realität der bundesdeutschen
Ellbogengesellschaft. Der Ausstieg aus einer totalitären Szene wie
der der Rechtsextremen ist nur ein notwendiger erster Schritt, der von
den Betroffenen in der Regel als “Befreiung” wahrgenommen wird – plötzlich
darf man im Alltag wieder ganz viel, was Szene-Angehörigen verboten
ist: der Konsum “undeutscher” Musik wie Rap und Reggae, das Tragen “jüdischer”
Jeans, fremdländisch essen, mit Menschen reden und befreundet sein,
die ganz anders denken oder aussehen... –, doch der Szenen-Wechsel allein
bedeutet noch lange keinen Wandel im Kopf. Dazu bedarf es einer weiteren,
oft langwierigen und schmerzhaften Beschäftigung mit den Fundamenten
der rechtsextremen Ideologie und der eigenen Persönlichkeit. Stefan
Michael Bars Autobiographie ist nicht nur ein beeindruckendes Zeugnis dieser
mühevollen Katharsis eines Ex-Neonazis, sondern darüber hinaus
auch ein Lehrstück für Fehler und Versäumnisse der bundesrepublikanischen
Gesellschaft im Umgang mit gefährdeten) Kindern und Jugendlichen. |
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